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Thema: Zum fehlenden Behinderungsbegriff der Antike (http://www.perfektibilistenorden.de/topic.php?id=1812)


Geschrieben von: 55555 am: 22.06.08, 15:36:57
Zitat:
Heute erwartet man, zumindest in den westlichen Kulturen, dass das Kind, das man bekommt, den körperlichen Schönheitsvorstellungen entspricht. Um das zu gewährleisten, werden entsprechende Maßnahmen getroffen wie Fruchtwasseruntersuchung und diverse Tests. In der Antike wäre man dagegen nicht schockiert, wenn das Baby die eine oder andere Anomalie aufweist. Eine Geburt war damals kein medizinisches Ereignis, Kinder mit Abweichungen wurden nicht pathologisiert. Sie galten auch nicht automatisch als minderwertig, unattraktiv oder behandlungsbedürftig – diese Vorstellungen werden von medizinischen und kulturellen Werten der Gegenwart diktiert. Normvorstellungen gab es in der Antike auch, jedoch waren sie undefiniert und kontextgebunden. Festgelegte Standards der Normalität menschlicher Körper sind relativ neu und hängen mit der Entwicklung der Statistik im 19.Jh. und der Eugenik im 20.Jh. zusammen. Mit anderen Worten: die strengen Messwerte von heute, die die Grenze zwischen Norm und Abweichung festlegen, gab es in der Antike nicht; ein Kind, bei dem man heute Missbildungen diagnostizieren würde, muss in der Antike nicht zwingenderweise ein inakzeptables Baby gewesen sein.

Angesichts des griechischen Ideals von Symmetrie und Gleichgewicht wundert es nicht, dass körperliche Makel vom ästhetischen Gesichtspunkt aus negativ bewertet wurden, aber ästhetische Konsequenzen hingen vom jeweiligen Kontext ab. Einen abweichenden Körper als hässlich, komisch oder beides zu betrachten, ist etwas völlig anders, als der institutionalisierte Horror vor einer körperlichen Beeinträchtigung, den die Medien der Gegenwart widerspiegeln.

Quelle