Zitat:
Ansonsten habe ich wohl oft das Gefühl eine gelesene Seite nicht wirklich zusammenfassen zu können und das das Lesen eher rein manuell abläuft und später eben nochmal aufgearbeitet wird.
Das passiert bei mir, wenn ein Text ein bisschen schwierig ist, und hat sich erst im Studium entwickelt. Seitdem ist es mir aber geblieben, was vielleicht daran liegt, dass ich seitdem auch schwierigere Texte lese. Eigenartig finde ich, dass so ein Effekt, nur noch "manuell" zu lesen - also automatisch mit den Augen die Buchstaben abzufahren und den Inhalt nicht mehr aufzunehmen - auch bei Texten passiert, wo ich gar nicht so klar sagen kann, was ich daran schwer verständlich finde. Ich lese mir dann einen Satz durch und frage mich, was zum Kuckuck daran schwer zu verstehen sein soll. (Eventuell) Keine Fremdwörter zu finden, die ich nicht kenne, und "rein manuell" ist der Satz verständlich. Nur fehlt dann wohl sowas wie eine Vorstellung von dem, was da steht.
Möglicherweise ganz extrem begegnet ist mir so ein Effekt erstmals, als mir so etwa mit 14 eine Freundin ein Buch unter die Nase hielt, von dem sie ganz begeistert war. Es hieß "Haben oder Sein" und ich verstand noch nicht mal den Titel! So richtig rein gar nicht, obwohl ich doch gut in der Schule war und nach Ansicht meine Lehrer Klassenbeste hätte sein können, wenn ich nur gewollt hätte. Und dann sowas! Sie war ein Jahr jünger als ich und hatte auch keine besseren Noten, warum kriegte sie nicht auch beim bloßen Anblick des Titels schon das Bedürfnis, aus dem Raum zu rennen?
Später, als ich mir wegen meines Scheiterns im Studium Gedanken machte, was denn bloß mit mir nicht stimmt, fiel mir diese damals schockierende Erfahrung wieder ein. Ich kam zu dem Schluss, dass ich Schwierigkeiten hätte mit dem Abstrakten und die Ebene des Konkreten brauche, um das Gefühl zu haben, etwas zu verstehen. In vielen Texten, die ich für die Uni lesen musste, war das auch echt der Grund, ständig den Lesevorgang zu unterbrechen und erstmal nachzudenken über das, was ich gelesen habe: Ich musste mir das ins Konkrete "übersetzen", Beispiele dafür finden oder mir eine bildliche Vorstellung davon machen. Wenn ich das nicht getan habe (z.B., weil es so langsam ist und die Texte so lang waren), ertappte ich mich irgendwann dabei, wie meine Augen den Text abfuhren, während ich gleichzeitig im Kopf den Einkaufszettel zusammenstellte.
Allerdings kommt es mir so vor, als ob ich "rein Abstraktes" sehr gut verstehen kann. Man kann ja schließlich nicht behaupten, dass Mathematik nicht abstrakt ist. Nur für die Verbindung zwischen beidem scheine ich mehr geistigen Aufwand zu betreiben als andere Leute. Und ich hatte auch öfter mal im Studium den Eindruck, dass viele es gar nicht erst versuchen und einfach ohne den "Umweg", es wieder mit dem Konkreten zu verbinden, eine Theorie lernen können. Da geht dann aber bei mir einfach nichts rein in den Kopf!
Damals habe ich das auf meine mehr oder weniger proletarische Herkunft zurückgeführt. Meine Mutter kam aus einer Arbeiterfamilie, mein Vater war Handwerker - da ist man einfach nicht so mit abstraktem Denken aufgewachsen wie Kinder aus Akademikerfamilien. Ich war auch ziemlich sauer über diese strukturelle Benachteiligung von Arbeiterkindern an den Unis, weil ich wusste, dass ich intelligent genug bin an sich.
Dann fand ich es in der letzten Zeit sehr interessant, dass es da irgendein Problem geben soll mit dem Abstrakten bei Autisten. Ich weiß nicht, ob das schon richtig verstanden wurde und ob ich es für mich schon richtig verstanden habe, worin das Problem besteht. Ich versuche es mal an diesem rätselhaften Titel "Haben oder Sein":
Zunächst mal schien mir das eine Frage zu sein, aber es kam kein Fragezeichen. War das dann doch keine Frage? Was dann?
Zweitens sind "haben" und "sein" Tätigkeitswörter, und es irritierte mich, dass Sein hier großgeschrieben wurde. (Es ist nicht so, dass mir substantivierte Verben unbekannt waren, und ich glaube, mittlerweile verwende ich selbst gelegentlich welche. Aber lange Zeit hatte ich eine Abneigung gegen sie und war immer irritiert, wenn welche vorkamen. Heute weiß ich manchmal nicht so genau, wann etwas ein substantiviertes Verb ist und wann nicht, z.B. "beim Lesen" - ist das richtig, dass man lesen da groß schreiben muss? Wenn ich das denke, ist es immer noch eine Tätigkeit und kein Subjekt...).
Drittens, und wohl am wichtigsten: "haben" und "sein" finden normalerweise in einem Kontext statt wie z.B. "ein Fahrrad haben" oder "krank sein". Ohne jeden Kontext fehlte mir der Hinweis darauf, worum es geht. Als einzeln stehende Wörter schienen sie überhaupt keine Bedeutung zu haben... Deshalb war das für mich echt so, als ob ich auf chinesische Schriftzeichen starre, oder auf eine gänzlich bedeutungslose Auflistung von Wörtern, die nicht zusammengehören.
Ich glaube, aus diesem Beispiel kann man sehen, wieso eine so geringfügig andere Denkweise gar nicht auffällt, so lange man es nur mit "ganz gewöhnlichen" Texten zu tun hat. Beim Lesen akademischer Texte insbesondere aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich muss man aber ständig im Kopf erstmal irgendwas arbeiten, um sich den Text verständlich zu machen. Naturwissenschaften sind in dieser Hinsicht erheblich einfacher.
Dann nochmal zu deiner Frage, was wir an Lektüre grade so empfehlen können: "Ein neuer Tag" von Barry Neil Kaufman habe ich mit Begeisterung gelesen. Es ist ein autobiografischer Bericht eines Vaters eines autistischen Jungen. Die Eltern (beide sehr gebildet) haben die Therapie ihres Sohnes selbst in die Hand genommen, nachdem sie keine ausreichende ärztliche Hilfe kriegten. Es ist sehr beeindruckend, sowohl von den Ansätzen her, die sie selbst entwickelt haben, als auch von der Darstellung und Einstellung her, die er über seinen Sohn vermittelt. Sie sind halt davon ausgegangen, dass er zum sozialen Kontakt auch eine ausreichende Motivation braucht, und dass er die nicht kriegt, wenn die Familie an ihm leidet und seinen Autismus "bekämpft". Grundlage der Therapie war also, glücklich mit ihm zu sein (und dafür an der eigenen Einstellung zu arbeiten) und ihn den Kontakt zur Familie und auch zu anderen als etwas Freudvolles erleben zu lassen. Lernen können wir, glaube ich, weniger aus dem "Programm" für den anfangs schwer autistischen Sohn als aus dem Selbsthilfe-Programm für die Eltern...