02.11.15, 12:19:21
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Zitat:
Eine Gruppe des Wohn- und Werkheims Dietisberg reiste am 24. August 2004 mit dem Car für ein Fussball-Spiel nach Mailand. Unter ihnen der Basler Rolf Bantle. An diesem Tag spielte der FC-Basel gegen Inter Mailand im San-Siro-Stadion um die Champions-League-Qualifikation. Es war der Tag, an dem Rolf Bantle verschwand.
Der Mann suchte kurz vor Spielende die Toiletten auf – eine Entscheidung mit Folgen. Als er sich wieder auf den Weg zu seinen Kollegen machte, verlor er die Orientierung: «Ich war plötzlich in einem ganz anderen Sektor», erklärt Bantle gegenüber der «Schweiz am Sonntag». Vor dem Stadion machte er sich auf die Suche nach dem Car, mit dem seine Gruppe angereist war. Jedoch ohne Erfolg. Ein Handy besass er nicht und die Nummer des Heims wusste er nicht auswendig. Und so blieb der Mann mit 20 Euro und 15 Franken in der Tasche in Mailand zurück.
Aus einem Tag wurden Wochen, aus Wochen Monate. Fast elf Jahre lebte Bantle in Mailand auf der Strasse. Schon bald habe ihn das ganze Quartier gekannt. «Es gab für mich schnell keinen Grund mehr, heimzukehren.»
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Weil seine Mutter neben der Arbeit kaum Zeit für ihn fand, wurde er später einer Pflegefamilie in Bern übergeben. Er machte nie eine Ausbildung, versuchte sich als Hilfsarbeiter. Sein Alkoholproblem zerstörte ihm endgültig eine normale Zukunft.
Bantle lebte Jahrzehnte lang in verschiedenen Heimen. Da kam ihm Mailand gerade recht: «In den Heimen fühlte ich mich eingeengt. Die plötzliche Freiheit gefiel mir.» Im Bezirk Baggio im Westen der Stadt wurde «Rudi», wie er von allen genannt wurde, schnell zum Inventar. Er hielt sich tagsüber in der Bibliothek auf und freundete sich mit Studenten an. Betteln musste Bantle nur selten, fast täglich spendierten ihm die Leute Zigaretten, Kaffee oder Wein. Zum Geburtstag luden ihn die Studenten jeweils in eine Beiz ein. Eine junge Frau wusch ihm sogar seine Kleider.
Unfall wurde ihm zum Verhängnis
Die ersten beiden Winter waren hart und er hatte Angst, zu erfrieren. «Doch dann schenkte mir ein Student einen Schlafsack. Das war die Rettung», erinnert er sich. Hin und wieder habe er sich dennoch nach einem richtigen Bett gesehnt. Duschen konnte er einmal die Woche in einer öffentlichen Toilette.
Alles lief gut, bis er im April 2015 auf dem Trottoir ausrutschte und sich den Oberschenkelknochen brach. Der inzwischen 71-Jährige wurde mit der Ambulanz ins Spital gebracht. Als sich herausstellte, dass er nicht versichert war, organisierte das Schweizer Konsulat den Transport ins Universitätsspital Basel.
Jetzt lebt der Rentner in einem Alterszentrum. Er vermisst das Leben in Mailand nicht. «Zehn Jahre sind genug, und hier geht es mir ja jetzt gut.»
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